Zum Nachlesen: Vorträge zum Europäischen Knappentag in Bad Aussee und Bad Ischl. Teil 3 – Prof. Dr. Herfried Münkler „Europa in einer Veränderten Weltordnung“

Prof. Dr. Herfried Münkler

Vorbemerkung

Eigentlich sollen Festreden immer auch eine Form der Stimmungspflege sein; sie sollen dazu beitragen, die Seelen der Anwesenden ein wenig fliegen zu lassen, indem herausge- stellt wird, was in der Vergangenheit des zu Feiernden alles gut und richtig gemacht wor- den ist. Dieses Gute und Richtige ist dann Gegenstand von Fest und Feier, und von ihm ist lobend die Rede. Das wird heute nicht der Fall sein – auch wenn ich keineswegs in Abrede stellen will, dass in der Vergangenheit bei Aufbau und Ausgestaltung Europas vieles gut und richtig gemacht worden ist. Aber beim Blick auf die Herausforderungen, die das verfasste Europa nunmehr zu bewältigen hat, wird es vor allem um das gehen, was nicht gemacht worden ist, wiewohl es auf der Tagesordnung stand, und was alles hätte anders gemacht und schneller realisiert werden müssen.

Ich werde beim Thema „Europa in einer veränderten Weltordnung“ also nicht viel dazu beitragen können, dass Sie sich wohlfühlen und anschließend beschwingt von dannen schreiten. Eher wird Ihre Besorgnis größer sein als zuvor – nicht unbedingt, weil wir in zwei Wochen Wahlen zum Europaparlament haben, bei denen es den Prognosen der De- moskopen zufolge zu einem politischen Rechtsruck kommen könnte – aber deswegen auch ein wenig. Es sind vor allem die auf Europa und seine Bürger zukommenden politi- schen, wirtschaftlichen und technologisch-wissenschaftlichen Herausforderungen, die uns besorgt und nachdenklich machen müssen: nicht weil diese Herausforderungen prin- zipiell nicht zu bewältigen wären, sondern weil nicht abzusehen ist, ob die Bürger Euro- pas den Willen und die Entschlossenheit aufbringen werden, sich diesen Herausforderun- gen zu stellen. Sie können sich nämlich auch die Dinge schön reden, alles so lassen, wie es ist, und darauf vertrauen, dass es schon gut werden wird. Die große Herausforderung ist, dass die Bürger Europas ihren Erwartungshorizont gegenüber der EU verändern müs- sen: dass sie weniger von ihr bekommen und mehr für sie leisten müssen. Eine solche Umstellung wird nicht ganz leichtfallen, nachdem die EU in der Wahrnehmung und Be- urteilung der Bürger eine Gemeinschaft geworden ist, die wesentlich auf Output und nur rudimentär auf Input beruht. Kurz und knapp: die leichten Zeiten, die „fetten Jahre“ sind vorbei, und es ist absehbar, dass sie vorerst nicht wiederkehren werden. Das als Vorbemerkung, gewissermaßen als eine, wie man heute sagt, Trigger Warnung.

Was waren „die fetten Jahre“? Und worauf beruhten sie?

Blicken wir zurück auf die mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende des Ost-West-Kon- flikts, so kann man in der Retrospektive sagen, dass wir Europäer es uns in ihnen bequem gemacht haben. Das gilt nicht nur für die NATO-Mitglieder, die ihre Verteidigungsauf- wendungen deutlich zurückgefahren haben, sondern auch für die Neutralen, jedenfalls diejenigen, die, inzwischen von NATO-Staaten umgeben, sich in deren Schutz eingerich- tet haben, also für Österreich und die Schweiz, um nur die beiden zu nennen.

Dieses „Sich-Bequem-Machen“ beruhte auf zwei Leitideen. Erstens der Vorstellung, dass es in Zukunft möglich sein werde, Konflikte zwischen den Staaten auf Grundlage des internationalen Rechts und unter Verzicht auf Gewaltmittel, also friedlich-schiedlich, zu klären und beizulegen. Dafür sollten Schiedsgerichte, internationale Gerichtshöfe sowie eine Reihe regionaler und globaler Institutionen sorgen, in denen die wichtigsten Staaten vertreten sein sollten, mitunter auch alle Staaten, die internationale Anerkennung genos- sen. Und wer sich diesen Urteilen nicht fügte, sollte mit wirtschaftlichen Sanktionen überzogen werden, die so lange gesteigert wurden, bis sich der zunächst Uneinsichtige fügte.

Sehr bald war freilich klar, dass sich diese Regeln zur Kriegsvermeidung zuverlässig nur auf zwischenstaatliche Kriege anwenden ließen, während innergesellschaftliche Kriege anderen Gesetzmäßigkeiten folgten und man sie, nachdem sie ausgebrochen waren, mit anderen Mitteln als denen eines Schiedsgerichts beenden musste. Das war die Lehre, die man aus den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er Jahre sowie aus den Kriegen im Ostkongo und den Massakern in Ruanda zog. Hier brauchte man eine international zu- sammengestellte Eingreiftruppe, die als constabulary force zu friedenserzwingenden und friedenserhaltenden Einsätzen in der Lage war, die also im buchstäblichen Sinne „dazwi- schen ging“ und die Bürgerkriegsparteien voneinander trennte. Um den Staaten eine Le- gitimation für die Intervention zu verschaffen, wurde die Rechtsfigur einer responsibility to protect entwickelt, auf deren Grundlage das Rechtskonstrukt der Souveränität relativiert wurde, und zwar für den Fall, dass die Regierung des Landes, in das hinein interveniert wurde, ihrer Schutzverantwortung für Minderheiten welcher Art auch immer nicht nachkam. Das Ende des Ost-West-Konflikts würde, das wurde in den 1990er Jahren klar, nicht der Anfang einer Ära ohne Kriege werden, aber wenigstens die zwischenstaatlichen Kriege sollten zum historischen Auslaufmodell werden.

Das blieb nicht ohne Folgen für das Militär und die Militäretats der Staaten: Die Ressour- cen, die man bis dahin für die Aufrechterhaltung eines militärischen Gleichgewichts zwi- schen den Blöcken aufgewandt hatte (das so genannte „Gleichgewicht des Schreckens“, also die wechselseitige nukleare Geiselnahme), sollten von nun an für friedliche Zwecke, wie Sozialleistungen oder Infrastrukturinvestitionen, verausgabt werden. Man bezeich- nete das als „Friedensdividende“ und gewöhnte sich daran, dass diese zur Verfügung stand – und zwar auf Dauer und keineswegs nur für eine begrenzte Zeit. Die Erwartung, wonach diese Friedensdividende eine sich alljährlich wiederholende Ausschüttung sei und nicht eine befristete Zahlung, die von äußeren Umständen abhängig war, begründete sich aus der Erwartung, dass hinfort wirtschaftliche und nicht mehr militärische Macht das ausschlaggebende Instrument der internationalen Politik sein werde. Über wirtschaft- liche Macht verfügten die Europäer sehr wohl und mussten sie nicht erst unter erhebli- chem Ressourceneinsatz eigens aufbauen. Das führte zu Bequemlichkeit und war die Grundlage dessen, was ich hier als „die fetten Jahre“ bezeichne.

Wenn ich von den „fetten Jahren“ spreche, dann unter Bezug auf die Deutung des Pharao- Traums durch den Israeliten Josef, der dem Herrscher über Ägypten erläuterte, dass das, was er geträumt hatte, eine Antizipation der wirtschaftlichen Zukunft war, in der für die kommenden sieben Jahre mit einer reichen Ernte und für die anschließenden sieben Jahre mit einer schlechten Ernte zu rechnen sei. Der Überfluss werde zeitlich begrenzt sein, so dass es eine kluge Vorsorge sei, wenn man in der guten Zeit nicht alles verzehre und verbrauche, sondern für jene Zeiten Vorsorge treffe, in denen man weniger habe und da- rauf angewiesen sei, auf die angelegten Vorräte zurückgreifen zu können. Josef, so können wir sagen, war ein Politikberater, der in guten Zeiten, in Phasen der materiellen Sorg- losigkeit, die Unvorhersehbarkeit des Zukünftigen nicht aus dem Auge verlor und eine gewisse Zurückhaltung beim Konsumieren des Überflusses anmahnte.

An solchen „Josefs“ hat es Europa in den letzten dreißig Jahren gefehlt. Man hat das Gegenwärtige schlichtweg als das Zukünftige unterstellt und darauf gesetzt, dass es min- destens so gut bleiben werde, wie es jetzt sei. Zumeist ging man darüber hinaus davon aus, dass es noch besser kommen werde. Dass es auch ganz anders kommen und deutlich schlechter werden könne, zog man nicht in Betracht, auch dann nicht, als sich in der internationalen Politik die Anzeichen dafür mehrten, dass sich die Dinge zum Schlechten wenden könnten, dass Gewalt wieder in die Regelung der internationalen Beziehungen Einzug halten und der für die europäischen Gesellschaften kostengünstige Frieden nicht von Dauer sein werde. Dass man sich in Bequemlichkeit sonnte, hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Als erstes war da die große physische, aber auch psychische Entspannung, die sich mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ausgebreitet hatte. Ich weiß nicht, ob man sich in Österreich den Stress der wechselseitigen nuklearen Geiselnahme in den 1980er Jahren vorstellen konnte bzw. rückblickend nachvollziehen kann. Es war dies die Zeit des Nachrüstungsbeschlusses, der für den Fall, dass die UdSSR ihre SS-20-Raketen nicht zu- rückzog, vorsah, dass der Westen zwecks Wiederherstellung des Gleichgewichts seiner- seits US-amerikanische Mittelstrecken-Raketen in Europa stationierte. Dagegen wandte sich damals die Friedensbewegung, die sich den Imperativen des militärischen Gleichge- wichts verweigerte und dazu aufrief, Frieden zu schaffen ohne Waffen. Diese Friedens- bewegung entstand damals in beiden Teilen Deutschlands, der Bundesrepublik und der DDR, wo nicht nur die Stationierungsorte der Raketen, sondern auch deren Angriffsziele lagen. Man protestierte dagegen, im Fadenkreuz der nuklearen Waffen zu leben.

Um die Dynamik dieses Protestes nachvollziehen zu können, muss man sich noch einmal die damaligen geopolitischen Konstellationen vor Augen führen: Nur im geteilten Deutschland (allenfalls noch unter Einschluss der Tschechoslowakei) stießen die beiden Blöcke, NATO und Warschauer Pakt, unmittelbar aufeinander. Sonst wurden sie in Eu- ropa durch einen Gürtel von Neutralen voneinander getrennt: im Norden durch Finnland und südlich von Deutschland durch Österreich und Jugoslawien, die wie eine Pufferzone die Kontrahenten voneinander trennten. Das aber hatte zur Folge, dass Deutschland bei- derseits dem „Eisernen Vorhang“ der weltweit am höchsten militarisierte Raum war, nicht nur wegen der mehr als 800.000 Deutschen unter Waffen, sondern auch in Anbe- tracht der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR und der US-Divisionen im Westen mitsamt der britischen Rheinarmee und der französischen Verbände in Baden- Württemberg. Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands standen damals etwa einein- halb Millionen Soldaten, was heißt, dass ein Krieg zwischen Ost und West vor allem hier geführt werden würde. Die Ordnung der Bipolarität aufrecht zu erhalten war Stress, so- wohl in der individuellen nervlichen Belastung als auch in den gesellschaftlichen Kosten. Das alles endete 1989, und vor allem die Deutschen kosteten in vollen Zügen aus, dass das vorüber war. – Das war und ist der eine Grund, warum man die Anzeichen dafür, dass das auch wieder enden könne, gern übersah, dass man nicht hören wollte, auf die gerade begonnenen „fetten Jahre“ könnten auch wieder „magere Jahre“ folgen.

Der andere Grund war die verbreitete Vorstellung von der nunmehr angebrochenen Aus- breitung des Westens als dem „Sieger der Systemkonkurrenz“ in globalem Maßstab. Francis Fukuyama lancierte damals in seinem Buch The End of History die Vorstellung von einer strukturellen Alternativlosigkeit der Demokratie und des Kapitalismus. Oben- drein stand die Theorie des demokratischen Friedens, derzufolge Demokratien keine Kriege gegeneinander führten, für die Zuversicht, dass die Welt in eine Ära des ewigen Friedens eintreten werde, wenn erst einmal allüberall Demokratien entstanden seien. Man glaubte, den Schlüssel zu einer stabilen und verlässlichen Friedensordnung in Händen zu halten. Man spürte den Wind der Geschichte im Rücken, und dieser Wind würde die Menschheit (und als erstes die so lange von Kriegen erschütterten Europäer) den Zielen von Wohlstand und Frieden immer näherbringen.

Man ging davon aus, dass Schritt für Schritt eine regelbasierte, wertegestützte und norm- getriebene Weltordnung entstehen werde, und diese Erwartung verband man mit der Vor- stellung einer endlosen Verfügbarkeit von Zeit, hatte also keine Vorstellung, dass es so etwas wie ein „Zeitfenster“ gab, innerhalb dessen man die Probleme gelöst haben musste. Beides zusammen, der Rückenwind der Geschichte und die Vorstellung, er werde dauerhaft fortwehen, führten zu einer forcierten Sorglosigkeit, die man mit Arthur Schopenhauer auch als „ruchlosen Optimismus“ bezeichnen kann. Dagegen hatten die vereinzelten „Josefs2 unter den Politikberatern keine Chance.

Die Rückkehr der globalen Einflusszonenpolitik

Eine Ordnung, die auf Regeln beruht und in der bestimmte Werte gelten, bedarf eines „Hüters“, der für die Geltung der Regeln und die Beachtung der Werte sorgt. Damit steht die Frage im Raum, wer der „Hüter“ einer solchen normativ hochanspruchsvollen Welt- ordnung sein soll: Die Vereinten Nationen wären für diese Aufgabe naheliegend, sind von ihrer Ressourcenausstattung und dem immer drohenden Veto eines der Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat dazu aber kaum in der Lage. Die Deutschen und die kleine- ren Länder in Europa haben dennoch auf die VN gesetzt und das mit der Vorstellung verbunden, dass sich die Weltorganisation grundlegend reformieren und für die Aufgabe eines „Hüters“ der Weltordnung ertüchtigen lasse. Es gab in den 1990er Jahren einen kurzen Honeymoon mit den VN, der aber zu Beginn der 2000er Jahre schon wieder ver- schwunden war, als die USA den 3. Golfkrieg begannen. In der Realität nämlich hatte das unipolare Momentum die USA zum „Hüter“ der Weltordnung werden lassen. Doch die waren mit dieser Aufgabe schon bald überfordert und nahmen sie des öfteren eher in der Rolle des „Herrn“ als des „Hüters“ wahr.

Das ist ein interessanter Punkt, über den man kurz nachdenken muss: Der „Hüter“ hat nämlich, so jedenfalls ist er definiert, das Gemeinwohl der Menschheit im Auge zu haben, also für die globalen Common Goods zu sorgen, was aber heißt, dass er die Kosten dessen trägt, woran andere gewissermaßen kostenlos teilhaben. Dass das auf Dauer nicht funkti- onieren kann, hat die Wirtschaftswissenschaft schon früh begriffen und in der Theorie einer tragedy of common goods formuliert, deutsch: einer Theorie von der Tragödie der Allmende, die darin besteht, dass die Zahl der free riders, der Trittbrettfahrer, immer grö- ßer wird, bis sich der „Hüter“, der Bereitsteller der Allgemeingüter, fragt, warum eigent- lich er für die Verfügbarkeit von etwas sorgen soll, das auch anderen, die dazu keinen Cent beitragen, von Nutzen ist.

Gemeingüter, um das noch kurz festzuhalten, sind dadurch definiert, dass von ihrem Ge- nuss keiner ausgeschlossen werden kann. Im Falle einer globalen Weltordnung, um die es hier ja geht, sind dies unter anderem Regeleinhaltung, Wertedurchsetzung und Norm- orientierung. Wenn diese Aufgabe dem „Hüter“ zu teuer wird, gibt es für ihn zwei Opti- onen: entweder er verwandelt sich in den „Herrn“, was heißt, er mischt zunehmend seine eigenen Interessen unter die common goods und verfolgt eine Politik, die wesentlich in seinem Interesse ist, oder er zieht sich aus der Aufgabe zurück und erklärt, dass er nicht mehr der „Hüter“ sein will und von nun an diese Aufgabe anderen überlässt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass sich ein Anderer angesichts des Missverhältnisses von Investieren und Konsumieren für diese Rolle findet. Damit ist dann, um es auf den Punkt zu bringen, die normativ angelegte Weltordnung, das globale System der Regeln, Werte und Normen gescheitert, denn es kommt nicht ohne einen „Hüter“ aus.

So haben die USA am Anfang der 2000er Jahre in Reaktion auf die Terrorangriffe vom 11. September mit ihrer Hinwendung zum Nahen und Mittleren Osten, konkret mit dem 3. Golfkrieg, ihr eigenes Interesse verfolgt, das in einer umfassenden Neuordnung von greater middle east bestand – und sind politisch im Irak in jeder Hinsicht gescheitert. Sie haben obendrein ihre Fähigkeiten überdehnt und sind in die Falle des in den Imperienthe- orien immer wieder beschriebenen imperial overstretch geraten. Barack Obama, der Nachfolger von George W. Bush, hat darauf mit dem Rückzug aus dem Nahen und Mitt- leren Osten reagiert, als er, um es konkret zu machen, nicht in den syrischen Bürgerkrieg eingriff – auch nicht, nachdem er dort „rote Linien“ gezogen hatte – und Syrien den Rus- sen überließ, die dort eine Politik in ihrem eigenen geostrategischen Interesse betrieben. Gleichzeitig hat er den pivot to Asia erklärt, womit er die globale Verantwortung der USA relativiert und Ostasien zum bevorzugten Engagementgebiet der USA erklärte. Zumindest deklaratorisch lief das auf ein Disengagement der USA im atlantischen Raum hinaus, was die Europäer hätte aufschrecken müssen, aber nicht tat. Stattdessen setzten sie wei- terhin auf eine Politik der forcierten Sorglosigkeit. Donald Trump stellte dann den Zu- sammenhalt der NATO in Frage, was heißt, er drohte nicht nur mit dem Rückzug aus der „Hüter“-Rolle, sondern auch mit der Verabschiedung der USA aus der Rolle eines Be- reitstellers von Club-Gütern, also Gütern, für die deren Konsumenten durchaus Investiti- onen tätigten freilich in den Augen von Trump nicht in hinreichendem Maße. Seine For- mel „American first“ postulierte eine Politik, die vor allem am Eigeninteresse der USA orientiert war und die die Interessen der europäischen Verbündeten zu einer untergeord- neten Größe machte. Damit war absehbar, dass hinfort nicht mehr ein „Hüter“ für die Einhaltung der Regeln der globalen Ordnung sorgen würde, sondern – im Gegenteil – dass der oder die Regelbrecher den Ablauf des Spiels bestimmen würden. Und genau so ist es auch gekommen: Wenn wir heute mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine von der Eskalationsdominanz Putins sprechen, heißt das nichts anderes, als dass der, den die Regeln nicht interessieren, den Gang des Geschehens bestimmt.

Im Ergebnis läuft das darauf hinaus, dass die internationale Politik durch eine Wiederkehr der globalen Einflusszonenpolitik bestimmt ist, von der wir Europäer eigentlich gemeint hatten, sie endgültig hinter uns gelassen zu haben. Das hat paradoxe Konsequenzen, etwa die, dass all jene, die jetzt von einem Einfrieren des Krieges in der Ukraine sprechen, die also den derzeitigen Frontverlauf als neue Grenze zwischen Russland und der Ukraine festschreiben wollen, de facto Unterstützer dieser Einflusszonenpolitik sind und auf den Gebrauch militärischer Gewalt beim Verschieben von Grenzen eine Erfolgsprämie aus- zuzahlen bereit sind. Indem sie vom Frieden reden, belohnen sie den, der den Frieden gebrochen und den Angriffskrieg wieder zu einem erfolgversprechenden Mittel der Politik gemacht hat. Sollte Putin am Asowschen und Schwarzen Meer erfolgreich sein, wird er mit einiger Sicherheit Nachahmer an der europäischen Peripherie finden. Die Parado- xie besteht also darin, dass der Regelbrecher zum Regelgeber und der Ruf „Frieden jetzt!“ zur Ermunterung künftiger Angriffskrieger geworden ist. Politik ist nun einmal ein Tum- melplatz der Paradoxien, nur haben die Europäer das nicht wahrhaben wollen.

Also: Was beobachten wird? Die USA stehen im Begriff, sich auf ihre herkömmlichen Einflussgebiete in Mittel- und Südamerika zurückzuziehen, um sich auf die Konkurrenz mit China einstellen zu können. Ob sie sich dabei auf die Europäer angewiesen sehen und wie sie damit umgehen, wird sich demnächst entscheiden. Wer auch immer die US-Prä- sidentschaftswahl im November 2024 gewinnt – die USA werden ein Akteur der regional begrenzten Einflusszonen sein und sich von globalen Herausforderungen fernhalten. China wiederum betreibt mit seiner Seidenstraßenstrategie eine Politik der Schaffung von Einflusszonen, die auf Zentralasien, das südliche Afrika und Teile Europas fokussiert ist. Das bevorzugte Mittel dieser Politik ist finanzielle und wirtschaftliche Macht, die im Stil- len wirkt, weswegen die Europäer sehr spät erst bemerkt haben, in welchem Ausmaß China dabei finanzielle Macht in politischen Einfluss transformiert. Können nämlich die Staaten, in denen China Infrastrukturprojekte realisiert hat, die damit verbundenen Kos- ten nicht zurückzahlen, werden diese großzügig gestundet, aber mit der Erwartung ver- bunden, dass die Betreffenden eine chinafreundliche Politik betreiben.

Und Russland? Es verfügt nicht über finanzielle Ressourcen wie China, und seine wirt- schaftliche Macht beruht im Wesentlichen auf der Kapitalisierung von Bodenschätzen, also dem Verkauf von Rohstoffen und Energieträgern. Damit aber kann man nur Einflusszonenpolitik betreiben, wenn man Rohstoffe und Energieträger unter den Weltmarkt- preisen abgibt, um auf diese Weise „Freunde“ und Verbündete zu gewinnen und an sich zu binden. Das kann man in bestimmten Grenzen tun, und in gewisser Weise ist Russland durch die westlichen Wirtschaftssanktionen inzwischen auch dazu gezwungen, um we- nigstens begrenzte Einnahmen zu genieren, aber eine durchschlagende Einflusszonenpolitik ist auf diese Weise kaum möglich. Also muss Russland wesentlich auf militärische Macht setzen und Krieg führen oder mit Krieg drohen, um seine geostrategischen Ziele zu erreichen. Es betreibt eine imperiale Politik klassischen Stils, indem es auf Eroberun- gen setzt, vom Georgienkrieg im Jahre 2008 über die Annexion der Krim und die Errichtung von Separatistengebieten im Donbas 2014 über das Eingreifen in den syrischen Bür- gerkrieg im Jahr 2015 bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine seit Februar 2022. Inzwi- schen kommt noch die offenbar langfristig angelegte Präsenz russischer Söldnerverbände in der Sahelzone hinzu, die als eine grundlegende Veränderung der geopolitischen Kons- tellationen in Afrika anzusehen ist. Russland nutzt überwiegend militärische Macht als Hebel seiner Rückkehr in die globale Politik und das mit dem Ziel einer Wiederherstel- lung seiner imperialen Struktur.

Und die Europäer? Sie sind offensichtlich durch die jüngsten geopolitischen Veränderun- gen, von den USA über China bis zu Russland, überrascht worden und mit einer Reaktion darauf überfordert. Konkret: Sie streiten sich über das, was zu tun ist. Sie haben jedoch mindestens zwei Großräume vor ihrer Haustür, die sie mit Frieden und Wohlstand ver- sorgen müssen und aus denen sie ihre geopolitischen Konkurrenten nach Möglichkeit herauszuhalten haben, wenn sie in Frieden und Wohlstand leben wollen: den Raum zwischen Westbalkan und Schwarzem Meer, den sie nach den jugoslawischen Zerfallskrie- gen notdürftig pazifiziert haben, wo sie aber nicht vorankommen und wo inzwischen eine gewisse Europa-Müdigkeit mitsamt der Suche nach Alternativen zur EU Einzug gehalten hat. Es ist das Versprechen auf lange Zeit angelegter finanzieller Transfers (denn darauf läuft die versprochene EU-Mitgliedschaft hinaus), mit dem die Europäer hier agieren. Und den Raum von der nordafrikanischen Gegenküste Europas bis zur Sahelzone, aus dem heraus die EU durch Migrationsbewegungen herausgefordert – um nicht zu sagen: bedroht – ist und wo den Europäern nicht viel anderes eingefallen ist als die Zahlung von Geld an die dortigen Staaten dafür, dass sie die Migration entschleunigen und die Mig- ranten an der Überfahrt nach Europa hindern. Diese Politik kostet die EU inzwischen sehr viel Geld, macht sie politisch erpressbar und ist nur mäßig erfolgreich. Man kann sagen, dass der EU in der Regel nicht viel mehr einfällt, als eine Politik des Freikaufs, aber das wird auf Dauer nicht gutgehen.

Die EU hat aber noch andere Probleme. Inzwischen ist nämlich der Zauber des Europa- projekts verflogen, der über einige Jahrzehnte dafür gesorgt hat, dass tendenziell alle politischen Parteien in Europa „europafreundliche“ Parteien waren. Das hat sich deutlich verändert: Nicht nur in der Bevölkerung haben sich Missmut und Ablehnung gegenüber der EU ausgebreitet, sondern in den nationalen Parlamenten wie im Europaparlament sind eine Reihe von politischen Parteien vertreten, die auf der nationalen Souveränität ihrer Länder bestehen, mit dem Austritt aus der EU zumindest drohen und, wenn sie denn über- haupt etwas von Brüssel erwarten, dann Subventionen in immer größerem Umfang und einen relevanten Beitrag zur Lösung ihrer nationalen Probleme, den sie als „Solidarität“ der anderen Mitgliedstaaten anmahnen. Sie wollen von der EU etwas bekommen, aber ihrerseits nichts geben oder zu deren Aufgabenbewältigung beitragen. Sie verkörpern eine aggressive Nettoempfängerhaltung, und wenn diese nicht oder nur unzureichend befriedigt wird, dann drohen sie mit dem Austritt. Rechtspopulisten sind darin mit Linkspopulisten vereint, und dementsprechend haben sich die zentrifugalen Kräfte innerhalb der EU im Verlauf der letzten Jahre ständig verstärkt. Das geeinte Europa hat die „fetten Jahre“ nicht genutzt, um eine Reihe von Herausforderungen innerhalb dieser Zeit anzu- gehen und „abzuräumen“ und ist jetzt durch die Gleichzeitigkeit der von außen kommen- den Bedrohungen und der inneren Schwäche in der Bredouille.

Was Nationalkonservative und Rechtspopulisten fordern läuft im Grundsatz auf eine Rückkehr zum alten Nationalstaat hinaus sowie auf den Rückbau der EU zu einer großen Freihandelszone, wenn denn überhaupt von der Union noch etwas übrigbleiben soll. In jedem Fall soll die EU in ihren Vorstellungen politisch keine Rolle spielen, und ob man unter diesen Umständen im Euroraum verbleiben kann, ist ebenfalls eine für die Populisten offene Frage In einer Lage, in der die EU angesichts der äußeren Herausforderungen und Bedrohungen stärker werden und sich aus einer Wirtschaftsunion in einen handlungs- fähigen politischen Akteur verwandeln müsste, setzen sie auf das genaue Gegenteil: auf Nationalprotektionismus, gegenseitige Distanz der europäischen Länder zueinander und Ablehnung jeglicher multilateralen Verpflichtungen, was eine Zuspitzung bzw. Verschärfung der europainternen Konflikte und ihrer Austragung zur Folge haben dürfte. Man kann das gut daran erkennen, dass die Rechtspopulisten sich so lange einig sind, wie es um die Ablehnung der EU und der Brüsseler Vorgaben geht, aber im Verhältnis der ein- zelnen Länder sind sie sich alles andere als grün und pflegen die alten Animositäten und Ressentiments, die zu überwinden bekanntlich eines der großen Ziele des Europaprojets war. Kurzum: die Herausforderungen der EU sind größer und ihre Unterstützung durch die Mitgliedsländer ist prekärer geworden. Die Schere zwischen Aufgabe und Lösungs- kompetenz geht immer weiter auseinander. Das sind alles andere als zuversichtlich stimmende Zukunftsaussichten – und das ist mithin auch der Grund dafür, warum ich keinen klassischen Festvortrag halten kann, bei dem man sich auf die Schultern klopft, den Bauch reibt und feiert, was man alles geschafft und erreicht hat.

Ich habe von den gewachsenen Zentrifugalkräften in der EU gesprochen und will das noch kurz erläutern, weil es nicht nur das Auftauchen der europadistanten bis europa- feindlichen Populisten betrifft, sondern auch die handfesten Interessen der EU-Mitglieds- länder, die wenig mit Stimmungen (dem Tummelplatz der Populisten), sondern mit ge- nuin politischen Herausforderungen zu tun haben. Dabei sind mehrere Spaltungslinien in der EU zu beobachten: eine, die gesamteuropäischen Finanzierungen betrifft, bei denen also nicht die Regierung der Mitgliedstaaten, sondern die europäischen Gremien über eine gemeinsame Kreditaufnahme entscheiden. Hier gibt es einen grundlegenden Dissens zwi- schen den ostmitteleuropäischen sowie den skandinavischen Staaten mit Deutschland als Anführer dieser Gruppe, die sich entschieden gegen gemeinsame europäische Schulden wehren, zumal dann, wenn sie auf eine Europäisierung nationaler Schulden hinauslaufen würden, und auf der anderen Seite die Südstaaten plus Frankreich, die für eine gemein- same europäische Kreditaufnahme plädieren, auch weil sie sich davon eine Erleichterung ihrer nationalen Verschuldung versprechen.

Eine weitere Spaltungslinie ist der Umgang mit der Migration, bei der sich die Ostmittel- europäer sowie zunehmend auch die vormals weithin liberalen skandinavischen Staaten weigern, Migranten, die in den südlichen Staaten der EU angekommen sind, in ihrem Staatsgebiet aufzunehmen, wohingegen die Südstaaten der EU das als eine gemeinsame Herausforderung Europas betrachten und die Solidarität der anderen einfordern. In dieser Frage bezieht Deutschland eine mittlere Position, insofern es zur Aufnahme von Migran- ten bereit ist, auch wenn diese in einem anderen EU-Land ihren Asylantrag hätten stellen müssen. Seit dem Anschwellen der Migrationsbewegungen spielen die Deutschen hier die Rolle einer zentripetalen Macht, die das Aufbrechen dieser Spaltungslinie zu verhin- dern sucht.

Und schließlich ist da noch die Frage der Ukraineunterstützung, die in den ostmitteleuropäischen sowie den skandinavischen Staaten sehr groß ist, während sie in Frankeich, Spa- nien und Italien eher niedrig ist, jedenfalls dann, wenn man sie prozentual am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt berechnet. Deutschland liegt hier in einem mittleren Bereich, unterhalb der Skandinavier und Ostmitteleuropäer, aber deutlich über den Unterstützungsaufwendungen von Frankreich, Spanien und Italien. Die Bundesrepublik nimmt also auch hier eine mittlere Position ein, in der sie, in absoluten Zahlen gerechnet, den bei weitem größten Beitrag aller europäischen Staaten zahlt. Deutschland ist auch hier also ein zent ripetaler Akteur, der die Mitte zwischen dem besorgten Blick nach Osten und der nervösen Beobachtung des Mittelmeeres hält, zwischen Putins Drohungen gegenüber den Nachbarn und den Migrantenbooten, die an der afrikanischen Mittelmeerküste in Rich- tung Europa ablegen.

Bei der Suche nach der Macht des Zentripetalen, das den zentrifugalen Kräften in Europa entgegenwirkt, stößt man somit ein ums andere Mal auf die Bundesrepublik Deutschland, das als der eigentliche Akteur des europäischen Zusammenhalts anzusehen ist. Das hat mit der geopolitischen Lage in der Mitte des EU-Raums zu tun, aber auch mit der deut- schen Position als wirtschaftlich stärkster Macht innerhalb der EU. Aber, so die daran anschließende Frage, wird Deutschland dieser Aufgabe auf Dauer gewachsen sein? Und zwar vom politischen Personal her, aber auch beim Blick auf die politische Urteilskraft seiner Bürger? Werden letztere bereit sein, die damit verbundenen Kosten und Lasten in ihrem wohlverstandenen – also längerfristigen – Eigeninteresse zu tragen, oder werden sie in einer stimmungsgetriebenen Aufwallung von Europaverachtung sich rechts- oder linkspopulistischen Parteien zuwenden, die nur dann in der EU zu verbleiben bereit sind, wenn das Land von Brüssel mehr herausbekommt als es einzahlt. Die Zentripetalmacht Europas ist dadurch definiert, dass sie den deutlich größten Beitrag zur Bereitstellung der common goods leistet und gleichzeitig eine Politik des Ausgleichs zwischen den diver- genten politischen Linien der Mitgliedsländer betreibt. Das verlangt nicht nur der politi- schen Klasse die Fähigkeit zu strategischem (und eben nicht bloß taktischem) Denken und Handeln ab, sondern erlegt den Bürgern auch eine verlässliche Resistenz gegenüber den Stimmungen des Augenblicks ab. Und beides ist alles andere als selbstverständlich.

Europa in einer multipolaren Welt

Wie bereits angedeutet, gehe ich davon aus, dass das unipolare Momentum, wie es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zeitweilig bei den USA lag, eine weltgeschichtliche Episode war und, jedenfalls in globaler Hinsicht, nicht damit zu rechnen ist, dass es in den vor uns liegenden Jahrzehnten sich noch einmal entwickeln wird. Aber auch die Ver- einten Nationen werden nicht in der Art und Weise reformierbar sein, dass sie als Aus- handlungsort der Menschheit und politischer Akteur der ausgehandelten Ergebnisse auf- treten können. Die USA sind mit derlei Aufgaben und Herausforderungen überfordert, zumal politisch relevante Gruppen in der US-Bevölkerung diese Aufgabe ablehnen, und China wird sich auf eine globale Ordnungsverpflichtung nicht einlassen, sondern weiter an seiner regional ausgerichteten Einflusszonenpolitik festhalten. In der Frage dessen ist nicht zu rechnen, dass im Verlauf des 21. Jahrhunderts an die Stelle des amerikanischen Jahrhunderts ein chinesisches Jahrhundert treten wird, wie das bis vor kurzem von Einigen vorausgesagt worden ist. Eine politische Agenda, in deren Mittelpunkt „Menschheits- fragen“ stehen, wird demzufolge auf absehbare Zeit nicht verfolgt werden können.

Es wird aber auch keine Rückkehr zur Bipolarität geben, wie sie in der Zeit des Ost-West- Konflikts die weltpolitische Ordnung geprägt hat. Weder gibt es noch „den Westen“ in der Form und Kohärenz, wie das in den Zeiten des Kalten Krieges der Fall war, noch ist das Verhältnis zwischen Russland und China, wie es sich in jüngster Zeit entwickelt hat, ein strukturelles Äquivalent dessen, was „der Osten“ in der Zeit der Bipolarität war, als die Sowjetunion die eindeutig dominante Macht gegenüber den Mitgliedstaaten des War- schauer Pakts war, die ihre Panzer rollen lassen konnte, um sich verselbständigende Mit- gliedstaaten wieder auf Linie zu bringen. Tatsächlich ist Russland im Vergleich mit China die strukturell schwächere Macht. China hat seine eigenen Ziele und Interessen, und in denen spielt Russland zurzeit eine bedeutende Rolle, aber damit ist es keineswegs gesagt, dass das dauerhaft so bleiben wird. Ebenso ist fraglich, ob die Europäer sich entsprechen- den Vorgaben aus Washington fügen und sich auf ein wirtschaftliches decoupling gegen- über China einlassen würden – bzw. einlassen könnten, ohne in eine verheerende ökono- mische Krise zu geraten.

Die zukünftige Weltordnung wird somit, das ist meine These, ein System der Multipola- rität sein – oder es wird keine Weltordnung geben, das heißt, es wird sich keine Hierar- chie der Staatenwelt herausbilden, sondern es wird eine Anarchie der Staatenwelt entste- hen, wie sie in den so genannten realistischen Theorien der internationalen Politik seit jeher als die Grundstruktur der internationalen Ordnung angenommen worden ist. Nach den hier entwickelten Grundannahmen dürfte es, wenn es denn zu einer hierarchischen Ordnung kommt, ein System der fünf großen Vormächte sein, das die Weltordnung prägt: mit den USA und China, Russland und der Europäischen Union sowie als fünfter Macht Indien, das als Repräsentant des globalen Südens auftreten wird.

Es sind spieltheoretische Erwägungen sowie historische Beispiele, die ein solches System der Fünf – nicht mehr, aber auch nicht weniger – als wahrscheinliche Ordnung nahelegen. So ist es seit dem 17. Jahrhundert in Europa immer dann, wenn eine unipolare Ordnung zusammengebrochen oder auf dem Weg zu ihrer Errichtung nicht vorangekommen ist, ein ums andere Mal zur Bildung von Pentarchien gekommen, also der Vorherrschaft von Fünfen – sowohl nach dem Dreißigjährigen Krieg als auch nach den napoleonischen Krie- gen, und diese Ordnungen haben dann in etwa ein Jahrhundert gehalten. Bei der letzten Pentarchie in Europa war das bis 1914, dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Fall. Überträgt man nun die europäischen Beispiele auf die globale Ordnung, könnte sich auch hier eine solche Pentarchie entwickeln, zumal ja auch die durch einen Ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat herausgehobenen Staaten fünf an der Zahl sind. Drei sind zu wenig, weil das bei Konfrontationen auf 2:1-Konstellationen hinausläuft, und Sieben oder mehr sind schon zu viele, weil dann der mit der Übernahme einer solchen Pol-Position verbun- dene Mehrwert nicht mehr groß genug ist um sie politisch attraktiv zu machen: Es muss schon ein relevanter Einfluss sein, den eine Macht erhält, um in ihr die Bereitschaft uu verdauern, die Kosten und Lasten einer regionalen Vormachtrolle zu übernehmen. Wo es diesen Mehrwert nicht gibt, platziert man sich im Publikum und beobachtet mit Beifall oder Missfallenskundgebungen, wie andere sich abmühen, die vielfältige Ordnung der Welt aufrechtzuerhalten. Man wechselt dann von den Akteuren zu den Zuschauern über bzw. von den Investoren in eine Ordnung zu deren Konsumenten.

Eine multipolare Ordnung folgt freilich eher einer Physik der Macht als normativen Vor- gaben, die von außen an die fraglichen Akteure herangetragen werden. Das heißt nicht, dass ein solches System ohne Regeln auskommt. Die fünf Vormächte bzw. regionalen Hegemonialmächte werden diese Regeln untereinander aushandeln, und diese Regeln werden so beschaffen sein, dass ihre Beachtung für jeden der Fünf von Vorteil ist, während ihre Verletzung sich gegen die Vormachtstellung aller Fünf richtet. Ist das der Fall, dürften die Fünf hinreichend an Regelkonformität im Umgang untereinander interessiert sein und erst recht bei allen anderen Akteuren. Es dürften jedoch eher dünne Regeln als ein dichtes Regelwerk sein, das auf diese Weise zustande kommt. Auch ist nicht damit zu rechnen, dass die genannten Fünf sich auf gemeinsame Werte verständigen, um diese zur Grundlage eines gemeinsamen Handelns im globalen Rahmen zu machen. Kurzum: die normative Dimension, die in der unipolaren Ordnungsvorstellung zentral war, wird es in einer Pentarchie der großen Mächte so nicht mehr geben. Das ist eine zwangsläufige Folge des fehlenden „Hüters“. Das heißt nicht, dass es keine Werte mehr gibt oder Werte nicht mehr zur Geltung gebracht werden, aber es werden recht unterschiedliche Werte sein, auf die sich die normativen Erwartungen in den jeweiligen Einflussgebieten stützen. Eine globale Werteordnung ist in Anbetracht der divergenten Vorstellungen des Westens, Chinas und Russlands weithin ausgeschlossen, und auch ein regelorientiertes Zusammenwirken der großen Fünf wird es nur geben, wenn die Vormächte ihre Wertedurchsetzung auf das je eigene Gebiet begrenzen. Ist das nicht der Fall, ist auch das (dünne) Regelsystem in Frage gestellt.

Einer solchen Pentarchie ist ein Zwang zu einem ausgeglichenen Portfolio der Machtsor- ten eigen, also das Erfordernis, über politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle Macht in etwa gleichgewichtig zu verfügen, um je nach Herausforderung und Erfordernis der Reaktion auf die angemessene Machtsorte zurückgreifen zu können, unter anderem auch deswegen, weil je nach Art der Herausforderung die Machtsorten ihr spezifisches Gewicht verändern: In der unipolaren Ordnung war, jedenfalls in der Vorstellung der Eu- ropäer, das spezifische Gewicht militärischer Macht gering und das wirtschaftlicher oder auch kultureller Macht hoch. Das hat sich seitdem aggressiv-revisionistischen Agieren Russlands grundlegend verändert hat: Das spezifische Gewicht militärischer Macht ist in die Höhe geschossen. Die Europäer werden also, wenn sie auf Dauer zu den fünf Vormächten gehören wollen, ihr Machtportfolio verändern müssen, und dazu gehört dann auch das Erfordernis, über eine eigene europäische nukleare Abschreckungskomponente zu verfügen. Die aufzubauen ist die wohl größte politische Herausforderung der nächsten Zeit.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Europäer das nicht schaffen, und das heißt, dass sie in der skizzierten Pentarchie nicht den ihnen zufallenden Platz einnehmen können, jedenfalls nicht auf Dauer. Sie sind dann nämlich durch Russland erpressbar und von den USA und deren Schutzschirm abhängig. Es ist dann zu erwarten, dass nach einiger Zeit andere den Platz der Europäer einnehmen werden, zumal in Konstellationen, in denen das spezi- fische Gewicht militärischer Fähigkeiten sehr hoch ist: etwa der Iran, der zur Vormacht des Nahen und Mittleren Ostens werden könnte. Politisch ein Horrorszenario. Aber nicht ausgeschlossen. In der ersten europäischen Pentarchienach 1648 etwa war Schweden eine der fünf Vormächte, allein wegen seiner militärischen Macht, mit der es zu einem Impe- rium an der und um die Ostsee geworden war. Es ist alles andere als sicher, dass wirtschaftliche Macht die ausschlaggebende Größe des Eintritts in den Kreis der Fünf ist. Wäre dem so, würde Russland nicht dazugehören, insofern sein Bruttoinlandsprodukt in etwa so groß ist wie das Spaniens. Heißt: Wollen die Europäer in der entstehenden Welt- ordnung eine Rolle spielen und an der Erstellung von Regeln beteiligt sein, müssen sie 16 dringend ihr Portfolio der Machtsorten ausgleichen. Tun sie das nicht, sind sie nicht Regelgeber, sondern Regelnehmer, vielleicht ein globaler payer als ein globaler player.

Eine andere Alternative ist, dass es nicht zur Entstehung einer Hierarchie der Staatenwelt kommt, sondern sich eine Anarchie der Staaten ausgebildet, in der permanente Verände- rungen von Bündnissen an der Tagesordnung sind. Freundschaft und Feindschaft sind dann fluiden Größen, auf die man nicht bauen kann, was für den weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts nichts Gutes verheißt. Es ist dann wahrscheinlich, dass Kriege zwischen den Staaten immer häufiger werden und es irgendwann nicht mehr möglich ist, diese Kriege räumlich und zeitlich zu begrenzen. (Der Krieg in der Ukraine ist zurzeit zwar nicht zeit- lich, aber doch räumlich begrenzt.) Diese Begrenzungen durchzusetzen ist eine der wich- tigsten Aufgaben des Regimes der großen Fünf. Die Zugehörigkeit der EU zu ihnen ist freilich nicht nur von militärischer Macht abhängig, sondern auch von der wissenschaftlich-technologischen Innovationsfähigkeit, bei der die Europäer erhebliche Anstrengungen – gemeinsame Anstrengungen, wohlgemerkt – unternehmen müssen, um den aktuellen Abstand zu den USA, aber auch China zu verringern. Das wird nur im europäischen Verbund möglich sein, aber nicht als Nationalstaaten.

Drittens müssen die Europäer zusammenbleiben, dürfen sich nicht durch Russland oder China auseinanderdividieren lassen, sondern müssen politische Mechanismen entwi- ckeln, die dafür sorgen, dass sie politisch mit einer Stimme sprechen. Ob das bei einem gleichgewichtigen Verhältnis der 27 Mitgliedstaaten und in einiger Zeit vermutlich noch mehr möglich sein wird, kann man bezweifeln. Wahrscheinlich wird viel davon abhän- gen, dass das Weimarer Dreieck, also die Achse Paris-Berlin-Warschau, – eine Führungs- rolle in der EU übernimmt. Früher hat man von der deutsch-französischen Lokomotive gesprochen, die Europa zieht und voranbringt. Sie ist um Polen als Vertreter Mittelosteu- ropas zu erweitern. Ob ein Südstaat der EU, Spanien oder Italien, dazukommt, bleibt ab- zuwarten, wäre aber um die Symmetrie innerhalb der Union willen wünschenswert. Das wäre dann das Zentrum bzw. der Kern der EU. Eine gewisse Hierarchie in der Union ist also unumgänglich.

Und zum Schluss: Es sind neben dem Ausbau der militärischen Fähigkeiten und der Rückgewinnung einer technologischen Spitzenposition zwei Räume, in denen die Europäer ihre Leistungsfähigkeit und Lösungskompetenz unter Beweis stellen müssen: der Raum vom Westbalkan bis zum Schwarzen Meer, den betreffend Österreich ein beträchtliches Wissen und vielfältige Kontakte einbringen kann. Die österreichische Rolle wird vermutlich größer werden, wenn der Ukrainekrieg ohne einen militärischen Zusammenbruch der Ukraine beendet sein wird. Daneben ist als zweiter Raum das große Gebiet zwischen der afrikanischen Mittelmeerküste und der Sahelzone zu nennen, ein Raum von Bürgerkriegen, Klimakatastrophen und Militärputschen. Beides heißt, dass die EU um- fassende Strategien entwickeln muss und sich nicht länger mit taktischen Kleinklein im Innern beschäftigen darf – jedenfalls nicht als Hauptaufgabe.

Es ist viel zu tun! Glück auf, Europa!

Foto: ©Dieter Hawlan

Über den Autor

Dr. Rainer Hilbrand
Medieninhaber u. Geschäftsführer

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